Im Teufelskreis des Vertrauensverlustes Published in "Die Welt", January 2014

Veröffentlicht in: Der Standard, 17. Januar 2014, und Die Welt, 16. Januar 2014

Vor einhundert Jahren stürzten Europa und die Welt ins Chaos. Der Erste Weltkrieg brachte nicht nur Leid und Zerstörung in unbekanntem Ausmaß, er beendete auch eine außerordentliche Phase der Globalisierung, angetrieben von imperialen Ambitionen und technologischen Innovationen.

John Maynard Keynes notierte über den Sommer 1914: “Bewohner Londons konnten aus dem Bett mit ihrem Telefon den Morgentee schlürfend Güter aus aller Welt bestellen und ihre schnelle Lieferung bis an die Tür erwarten.”

Noch bemerkenswerter als diese Errungenschaften war für den Ökonomen, dass die Londoner diese als gegeben betrachteten. Militarismus, Imperialismus, Rassenwahn, Kulturkampf, schrieb er zynisch, waren bloß Zeitungsunterhaltung ohne direkte Wirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft.

Keynes’ Erinnerung stammt aus seinem Werk “Krieg und Frieden: Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles”, erschienen 1919 kurz nach Kriegsende. Heute, im Jahr 2014, liegen Konflikte von Syrien bis ins Südchinesische Meer scheinbar in weiter Ferne, Europa ist vorerst gerettet, der Dax jagt den nächsten Rekordstand, und Güter aus aller Welt wurden rechtzeitig zum Weihnachtsfest geliefert.

Doch auch heute gilt: enge ökonomische, politische und soziale Verflechtungen sind allein kein Garant für Wohlstand und Frieden.

Geopolitische Umsortierungen

Fast 100 Jahre hat es gebraucht, bis die Weltwirtschaft sich wieder so stark vernetzt hat wie vor 1914. Der Historiker Niall Ferguson warnt, dass die aktuelle Globalisierungswelle ähnliche Schwachstellen hat wie damals: eine überlastete Großmacht, wachsende geopolitische Rivalitäten, ein instabiles Allianz-System, und “Schurkenstaaten”, die Angst und Terror streuen.

Oxford Professorin Margaret MacMillan vergleicht die Rivalität zwischen Deutschland und England zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der zwischen China und Amerika heute: Handel und Investitionen zwischen den Großmächten haben sich seit den frühen achtziger Jahren potenziert. Gleichzeitig jedoch wachsen Misstrauen und Provokationen wie Chinas Flugverbotszone im Ostchinesischen Meer, das Eindringen amerikanischer Kampfflugzeuge in diese oder der Besuch des Yasukuni Kriegsschreins durch Japan’s Premierminister Shinzo Abe.

Doch geopolitische Spannungen, die auch aus der ökonomischen Umsortierung der Welt, etwa dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, resultieren, sind nicht der einzige Anlass zur Sorge. Wachsende Ungleichheit, schwindendes Vertrauen in Manager und Politiker, die Zerstörung der Umwelt, und gesellschaftliche Konsequenzen technologischen Fortschritts führen ebenfalls zu Instabilität.

Soziale Ungleichheit steigt

In den USA sind seit 2009 95 Prozent aller Einkommenszuwächse dem obersten Prozent der Vermögenden zugeflossen. Zudem schafft es heute dort nur noch eines von 20 Kindern aus den unteren zwanzig Prozent der Einkommensverteilung bis ganz an die Spitze. Auch Europa kämpft mit wachsender Einkommens- und Chancenungleichheit als Folge von Wirtschaftskrise und Sparpolitik.

Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben der Welt enorme Wachstumsraten beschert. In Ländern wie Indien und China konnten sich Millionen Menschen aus der Armut befreien. Mehr als die Hälfte des globalen Wachstums wird heute in Asien, Lateinamerika und Afrika produziert.

Dennoch, wenn Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Unsicherheit weiter zunehmen, wächst die Gefahr, dass die gesellschaftliche Zustimmung für eine offene und liberale Wirtschaftspolitik schwindet. Barack Obama hat Recht, wenn er Ungleichheit und fehlende Aufstiegschancen als zentrale Herausforderung unserer Zeit definiert.

Eine gerechtere Wirtschaftsordnung

Doch sind Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik willens und fähig, eine widerstandsfähigere und gerechtere Wirtschaftsordnung zu schaffen? Für den Nobelpreisträger und vormaligen Chefökonomen der Weltbank Joseph Stiglitz ist die Antwort klar: Ungleichheit ist nicht Schicksal, sondern Entscheidung.

Die Welt, so Stiglitz, ist nicht nur in arm und reich unterteilt, sondern in solche Nationen, die Ungleichheit aktiv bekämpfen und jene, die es nicht tun. Südkorea, wo noch vor einem halben Jahrhundert nur ein Zehntel der Bevölkerung über einen Schulabschluss verfügte, hat heute eine der weltweit höchsten Raten an Hochschulabsolventen.

Für Moises Naim vom Carnegie Endowment for International Peace ist die Lage komplexer: Infolge von Globalisierung und technologischem Wandel sinkt die Fähigkeit von Entscheidungsträgern die Geschick von Ländern und Leuten effektiv zu lenken.

Macht, argumentiert Naim, ist heute zwar leichter zu erlangen, aber auch schwerer einzusetzen und vor allem flüchtiger: blitzartig über soziale Netzwerke organisierte Proteste in Ländern wie Chile, Brasilien und der Türkei definieren politische Machtgrenzen neu. Global gibt es ausreichend Macht, um Fortschritt in zentralen Klima- und Handelsfragen zu blockieren – jedoch nicht genug Macht sie zu lösen. Und Firmenlenker halten sich kürzer an der Spitze als noch vor zwanzig Jahren.

Komplexität erodiert Macht der Entscheidungsträger

Ob mangelnder Wille oder begrenzte Handlungsfähigkeit, das Vertrauen in unsere Führungseliten ist in alarmierender Weise erodiert. Laut Francis Fukuyama kann dies schnell zu einem Teufelskreis führen: immer komplexere Kontrollmechanismen schränken die Handlungsfähigkeit politischer Entscheidungsträger ein und mindern so weiter das Vertrauen in politische Lösungen.

Die Wiederherstellung von Vertrauen in Politiker und Institutionen muss daher als dritte große Herausforderung gelten. Dies erfordert neue Ansätze politischer Mitbestimmung und effektive Wege Macht zu kontrollieren, ohne Reformen zu blockieren,

Die vierte Herausforderung für eine globalisierte Weltwirtschaft sind die traditionell vernachlässigten Bereiche Umwelt und die Interessen zukünftiger Generationen. Trotz wachsender Ungleichheit leben viele Menschen heute besser, gesünder und länger als noch Mitte des 20. Jahrhunderts.

Im Jahr 2030, so eine Studie des US National Intelligence Council, könnte die globale Mittelschicht von einer auf drei Milliarden Menschen anwachsen. Die Umwelt- und Klimakosten dieser Entwicklung sind schon heute immens – und laufen Gefahr sie langfristig zu gefährden.

Risiken verschieben sich

Der Global Risk Report des Weltwirtschaftsforums warnt, dass eine schwächelnde Weltwirtschaft Ressourcen bindet und damit ein entschiedenes und langfristiges Handeln in der Klimapolitik gefährdet. Arvind Subramanian vom Institut für internationale Wirtschaft fordert daher einen vorwärtsgewandten Klimadialog, in dem aufstrebende Wirtschaftsnationen wie Indien und China eine Führungsrolle einnehmen.

Auf der Umweltkonferenz “Rio+20” vereinbarten Industrie- und Entwicklungsländer einen Nachfolger für die im kommenden Jahr auslaufenden Milleniums-Ziele zu entwerfen, der Entwicklung und Nachhaltigkeit verbindet. Dies intelligent und effektiv zu gestalten muss ein zentrales Element internationaler Zusammenarbeit werden.

Die letzte Kernherausforderung ist die gesellschaftliche Auswirkung technologischen Wandels. Google übernahm kürzlich unter anderem das Robotikunternehmen Boston Dynamics, bekannt für Maschinen, die Lasten durch unwegsames Gelände tragen oder schneller rennen als Usaine Bolt.

Ab 2015 sollen zivile Drohnen in den amerikanischen Luftraum integriert werden. Jeff Bezoz, Gründer von Amazon, möchte damit zukünftig seine Pakete ausliefern.

Der Aufstieg der Roboter

Illah Nourbakhsh, Professor an der renommierten Carnegie Mellon Universität, prophezeit: die Verknüpfung von Robotertechnik mit Mobil-, Internet- und Cloud-Technologien wird dazu führen, dass Roboter nicht nur Zugriff auf gigantische Datenmengen haben, sondern als Sensoren unsere Gesellschaft durchdringen werden. Das zeigt: die digitale Revolution ist nicht vorbei, sie hat erst begonnen.

Und schon heute stellt sich im Lichte von Spähattacken, Cyberkriminalität und Drohnenkrieg die Frage: wie können wir sicher gehen, dass technologischer Fortschritt auch gesellschaftlicher Fortschritt ist?

Davos als Forum des Wandels

In wenigen Tagen tritt zum 44. Mal in Davos das Weltwirtschaftsforum zu seinem Jahrestreffen genau dort zusammen, wo Thomas Mann seine Arbeit am “Zauberberg” begann, aber wegen des Krieges 1914 unterbrechen musste.

Geopolitische Verschiebungen, wachsende Ungleichheit, Vertrauen in wirtschaftliche sowie politische Institutionen, nachhaltige Entwicklung, und technologischer Wandel sind die Kernthemen eines Dialogs, an dem sich Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft beteiligen.

Ziel wird es sein, in den komplexen Herausforderungen von heute, Prioritäten, Risiken und Chancen für morgen zu erkennen. Denn nur so lässt sich eine gemeinsame Zukunft gestalten und verhindern, dass die Welt in neue Krisen schlafwandelt.

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