Das Endspiel: Demokratie in der Coronakrise Published in "Die Zeit", May 2021

Die Zeit (print edition), May 20, 2021

Würden Deutschland und Frankreich morgen wählen, sähe es für die Regierungen schlecht aus. In Deutschland ist die grün-liberale Opposition im Aufwind, in Frankreich erstarkt Marine Le Pen.

Für den Abstieg der Regierungen gibt es Gründe. Zu Anfang hat Covid-19 schonungslos den Unterschied zwischen Kompetenz und Klamauk aufgezeigt, zwischen starken Sozialstaaten und solchen, die das Gegenteil verkörpern. Profis schlugen Populisten. Die Panik zu Beginn der Krise hat Regierungen genützt, die auf Expertise statt Effekte vertrauten. „Statt nach jemandem zu suchen, der ihrem Frust Ausdruck verleiht, halten Menschen in Angst nach denjenigen Ausschau, die sie schützen können und einschlägige Kenntnisse besitzen», so fasst es der Politikwissenschaftler Ivan Krastev zusammen.

Mit weiteren Wellen wandelte sich aber das Bild. Hat das Edelmann Trust Barometer 2020 noch den Staat zur meistvertrauten Institution gekürt, so erfuhren Staaten in Asien, Europa und Nordamerika ab Mitte 2020 große Vertrauensverluste.

Letzteres könnte das «Le Pen»-Phänomen erklären: Wie nach der Finanzkrise droht auf den Höhepunkt der Technokratie ein Höhepunkt des Populismus zu folgen. Wenn die heiße Phase der Krise vorbei ist und wir nicht mehr um unser Leben fürchten, könnte mancherorts die Wut zurückkehren und Populisten an die Oberfläche spülen.

All das hat viel mit dem neuen, verwirrenden Stadium der Pandemie zu tun. Einerseits nehmen Impfungen Fahrt auf, andererseits entstehen Mutationen. Regeln werden undurchsichtiger, es gibt mehr Ausnahmen und Sonderwege. Dazu weicht die Angst vor dem Virus zunehmend diffuseren Zukunftssorgen. Covid bescherte den Populisten eindeutig eine Krise, «Post-Covid» vielleicht neue Themen.

Wenn demnächst europäische Nationen an die Wahlurnen treten, bewerten sie, wie ihre Regierungen dieses Stadium gemeistert haben. Und das könnte Europa wieder dem Sog des Populismus aussetzen. Wie er nach der Finanzkrise einer scheinst alternativlosen «Expertenpolitik» eine wütende «Gefühlspolitik» entgegenwarf. 

Um das zu vermeiden, dürfen sich drei Versäumnisse aus der Finanzkrise nicht wiederholen:

Das erste Versäumnis war es, Verteilungs- und Beschäftigungseffekte nicht besser abzufedern. Der Druck der hohen privaten und öffentlichen Verschuldung wurde nach der Finanzkrise gelindert, indem Zinsen gesenkt wurden – damit wurden aber Aktien und Immobilien aufgewertet. Im Nebeneffekt stiegen die Löhne langsamer als die Kapitalrenditen. Und somit stieg auch die Ungleichheit, was wiederum dazu beitrug, dass die gesamtgesellschaftliche Nachfrage stagnierte.

Einige Studien zeigen, dass Corona auch die Ungleichheit verschärfen könnte. Zwar formte sich ein Bewusstsein für «systemrelevante Berufe» wie der Pflege, aber 90 Prozent der Beschäftigten in diesen Berufen verdienen weiter unterdurchschnittlich. Gerade Geringverdiener hatten in der Pandemie das höchste Risiko, ihre Stelle zu verlieren. Bislang haben die Maßnahmen zum Beschäftigungsschutz zwar viel aufgefangen, doch nach Ende der Programme dürfte der Abstand zwischen Arm und Reich eher wachsen als abnehmen. Europa muss auf diese Probleme kluge Antworten finden. Der Covid-Fonds der EU kann da nur der Anfang sein.

Das nächste Versäumnis nach der Finanzkrise war der verpasste Ausstieg aus den Niedrigzinsen, der nicht zuletzt die Liebe zum Status-quo zurückzuführen ist: Ist eine Praxis erst einmal da, wird ihren positiven Effekten – und den negativen Folgen ihrer Abschaffung – oft zu viel Wert beigemessen. Yascha Mounk von der Johns Hopkins University fürchtet, dass diese Verzerrung auch die Covid-Politik beeinflussen wird. Erst verleitete sie viele Regierungen dazu, zu spät Notfallmaßnahmen einzuführen. Jetzt könnte sie das Gegenteil bewirken. In westlichen Demokratien hängt die Latte für das Einschränken von Freiheitsrechten eigentlich hoch. Sind sie aber einmal eingeschränkt, etwa wegen einer Pandemie, ist die Gefahr groß, dass man nicht mehr genau schaut, ob die Extremsituation, die diese Einschränkung rechtfertigt, noch besteht. Dagegen wirkt nur die ständige Überprüfung der Lage.

Das führt zum dritten Versäumnis: der schleichenden Einschränkung demokratischer Mitsprache. In der Finanzkrise geschah das durch die zunehmende Macht der Zentralbanken. Es waren sie, die damals den totalen Kollaps verhinderten. Sie beziehen ihre Glaubwürdigkeit aus Unabhängigkeit, Expertise, und einem eng gefassten Mandat. In der Krise aber dehnten sie ihre Rolle aus. Sie wurden Wachstumsmotoren, Regulatoren, Investoren. Das rettete die Wirtschaft, erschütterte aber die Grundfesten ihrer Legitimität – und machte sie so zur Zielscheibe der Populisten.

In der Pandemie waren die Eingriffe in die demokratische Mitsprache stark. Dazu verlagerte sich das Leben ins Netz, wo sich Falschinformationen und Verschwörungstheorien rasant ausbreiten. Der kritische Diskurs ist ins Stocken geraten. Und hier sind die digitalen Plattformen in der Verantwortung. Ihr Umgang mit Donald Trump verbildlicht die Macht und  Hilflosigkeit von Firmen wie Twitter und Facebook. Um die demokratische Mitsprache und den öffentlichen Diskurs zu stärken, müssen sie neue Wege finden, Gesellschaften zu verbinden, ohne sie zu zerteilen.

Wie gut Demokratien die Coronakrise überstehen, wird von ihrem Endspiel abhängen. 

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