Das Ende des Wal-Mart Zeitalters Published in "Die Zeit", August 2015

Veröffentlicht in Die Zeit, Nr. 34/2015, 20. August 2015.

Ob Europas Grexit-Drama oder Chinas Börsenachterbahn, die jüngsten wirtschaftlichen Turbulenzen verbindet ein Problem: niedrige Produktivität. Die vergleichsweise geringe Effizienz, mit der Unternehmen Arbeit und Kapital in Güter und Dienstleistungen umwandeln, verbannt Griechenland regelmäßig ans Ende globaler Wettbewerbsrankings und könnte Chinas Aufstieg als Wirtschaftssupermacht bremsen.

Weltweit ist das Produktivitätswachstum auf dem tiefsten Stand seit der Jahrtausendwende. In Amerika ist die Produktivität von 1995 bis 2010 jährlich um 2,6% gestiegen. Mittlerweile liegt der Anstieg bei nur 0,4%. In Deutschland ist er ähnlich schwach, in Großbritannien sogar rückläufig. Das ist beunruhigend. Steigende Produktivität ist Bedingung für langfristig solides Wachstum, weniger wirtschaftliche Ungleichheit, und einen geringeren Ressourcenverbrauch.

Warum stagniert die Produktivität? Einige deuten auf den langen Schatten der letzten Wirtschaftskrise, auf versäumte Investitionen und eine junge Generation, die von der Uni direkt in die Arbeitslosigkeit entlassen wurde. Andere beruhigen, die Kennzahl spiegele die Qualität heutigen Fortschritts nicht angemessen wider. Smartphones machten unser Leben nicht unbedingt produktiver aber trotzdem besser. Das mag beides stimmen, ist aber trotzdem nicht alles. Die Verlangsamung ist Zeichen eines tieferen Wandels.

Um diesen Wandel zu fassen, hilft es zwei Jahrzehnte zurück zu schauen, zum Beginn des letzten globalen Produktivitätssprungs. Dieser trug einen Namen: Wal-Mart. Dem amerikanischen Supermarktriesen wird ein substantieller Anteil am Produktivitätsanstieg der Neunziger zugerechnet. Keiner verstand es besser die Triebfedern dieser Zeit zu nutzen: Computerisierung, Globalisierung und ein demographisch bedingter Anstieg der Erwerbstätigen. Alle drei Faktoren sind heute angegriffen.

Vom kleinen Bürger bis zum großen Alan Greenspan, dem damaligen Chef der amerikanischen Notenbank Fed – das enorme Wachstum der Neunzigerjahre nährte den Glauben an eine grenzenlose „New Economy“, die sogar die goldenen Fünfziger und Sechsziger übertrifft. Doch dann kam die Krise. Für Ökonomen wie Robert Gordon oder John Fernald zeigte der Einbruch der Nullerjahre, dass das digitale Zeitalter von vielen massiv überschätzt worden war.

Falsch, entgegnen Vordenker wie Erik Brynjolfsson oder Jeremy Rifkin. Dank globaler Vernetzung und wachsender Maschinenintelligenz stehe der größte Wandel erst bevor. Doch selbst wenn man wie diese nicht an das Ende des Fortschritts glauben mag, lässt sich eine unbequeme Wahrheit nicht von der Hand weisen: Der Großteil des Produktivitätswachstums der Neunziger ging auf das Konto des globalen Handels. Dessen Ausdehnung hat sich stark verlangsamt.

Vor der Krise wuchs der Welthandel fast doppelt so schnell wie das globale Pro-Kopf Einkommen. Das trieb die Verbreitung von Technologie rasant voran. Das Wachstumspotential der sogenannten Schwellenländer wuchs auf sagenhafte 7,4%. Heute wächst der Handel nur noch halb so stark und das Potential dieser Länder ist um 2% gesunken.

Der Rückgang des Handels und die Entschleunigung technologischer Angleichung stellt Länder wie China vor große Probleme. Der Ruf von Premier Li Keqiang nach einer globalen Industriepolitik, die westliches Know-How und chinesische Produktionskapazitäten verbindet, ist nur eine von vielen Initiativen, um Chinas Produktivität anzukurbeln.

Und es drohen weitere Gefahren. Der Aufstieg Chinas wurde durch einen breiten Strom armer Landarbeiter in die Städte ermöglicht. Dieser Strom wird stetig dünner. Der durch Chinas Ein-Kind-Politik noch verstärkte demographische Wandel wird die Löhne nach oben drücken – aber auch die Rentenbelastungen. China wird produktiver werden müssen, um seinen Aufstieg fortzusetzen.

China ist aber nicht das einzige Land mit einer alternden Gesellschaft. Kommen heute vier potentiell Erwerbstätige auf einen im Rentenalter, sind es 2050 nur noch zwei. Vor diesem Hintergrund ist die Angst vor einer fortschreitenden Automatisierung der Arbeitswelt übertrieben: in alternden Gesellschaften ist diese unausweichlich, wenn Wohlstand weiter steigen soll.

Niedrigzinspolitik und massive staatliche Investitionen konnten in der Weltwirtschaftskrise das Schlimmste abwenden. Heute reicht das globale Wachstum wieder an das vor 2007. Das Boot ist nicht gesunken, aber für einen neuen Kurs bedarf es jetzt einer Auseinandersetzung mit den stotternden Wachstumsmotoren der Wal-Mart Ära: dem lahmenden technischen Fortschritt, der an ihre Grenzen stoßenden Globalisierung und dem Ende einer einzigartigen demographischen Dividende.

Den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft muss mit höherer Arbeitsmarktbeteiligung, besserer Bildungsqualität und einer intelligenteren Einwanderungspolitik begegnet werden. Am wichtigsten jedoch ist die Förderung von Innovation. Die ist nicht nur der Schlüssel zu mehr Produktivität, sondern auch zu Lösungen für globale Herausforderungen, von Erderwärmung bis Epidemien.

Doch was treibt Innovation? Dazu ist eine neue Debatte entflammt. Auf der einen Seite stehen Ökonomen wie der Nobelpreisträger Edmund Phelps, der in „Mass Flourishing“ den Unternehmergeist preist und dem staatlichen „Korporatismus“ eine Abfuhr erteilt. Auf der anderen stehen solche wie Mariana Mazzucato, die betont wie wichtige Innovationen oft erst durch den Staat ermöglicht werden. Alles, was das Smartphone „smart“ macht, so die Professorin, geht auf öffentliche Forschung zurück: von Internet und GPS bis zu den Algorithmen hinter dem Sprachassistenten Siri.           document Ein Schlüssel zu mehr Produktivität. Die Zeit No. 34, S. 27 WcMgcq

Letztendlich geht es also um das komplexe Zusammenspiel beider Akteure. Oder wie der Harvard Professor Ricardo Hausmann treffend schreibt: „Staaten aufzufordern Unternehmen aus dem Weg zu gehen ist wie Fluglotsen aufzufordern Piloten aus dem Weg zu gehen“. Das Schlagwort heißt also Vertrauen – ein knappes Gut in Zeiten von Spähattacken und gesellschaftlicher Polarisierung.

Vertrauen ist auch global der Schlüssel zu mehr Innovation. Handelsliberalisierungen haben ihr Potential weitgehend ausgereizt, jetzt kommt es darauf an, dass Unternehmen und Institutionen nicht nur Fertigung sondern auch Forschung und Entwicklung globalisieren. Das birgt nicht nur bei Bildung und Infrastruktur neue Herausforderungen sondern auch in Bezug auf Rechtssicherheit und geistiges Eigentum.

Die Energie, mit der Forscher und Unternehmer heute an neuen Lösungen und Technologien feilen, ist beeindruckender denn je. Aber wir sollten aus dem Hype der Neunziger lernen, dass Zuversicht nicht zu Selbstgefälligkeit und von dort zu Selbsttäuschung werden darf. Das Wal-Mart Zeitalter ist vorbei, jetzt ist es an der Zeit Wachstum gemeinsam neu zu erfinden.

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