Published on: Project Syndicate, 29 October 2019
Im letzten Monat unterzeichneten 183 Chefs großer Unternehmen eine Erklärung, in der sie bekräftigten, über das „Shareholder First“-Mantra hinaus zu gehen zu wollen, um alle Interessen zu berücksichtigen – darunter auch die der Arbeitnehmer, Kunden, Lieferanten und menschlichen Gemeinschaften. Viele Beobachter reagierten darauf skeptisch. Tut man diese Erklärung des US-amerikanischen Business Roundtable allerdings als reine Öffentlichkeitsarbeit ab, ignoriert man den heftigen Gegenwind, der den Unternehmen ins Gesicht weht – und auch ihre durchaus erwiesene Fähigkeit zur Anpassung.
Seit es moderne Unternehmen gibt, müssen sie sich einem grundlegenden Paradox stellen: Die Gesellschaft braucht große Organisationen, um komplexe kollektive Probleme lösen zu können, aber sie hat auch Angst vor zentralisierter Autorität und Entscheidungsfindung. Wie Robert D. Atkinson und Michael Lind in ihrem jüngsten Buch Big is Beautiful: Debunking the Myth of Small Business erklären, sind die große Konzerne in den USA den kleinen Unternehmen in fast allen Bereichen überlegen – von Löhnen und Produktivität bis hin zu Exporten und Innovationen.
Laut öffentlicher Meinungsumfragen genießen die großen Unternehmen allerdings sehr wenig Vertrauen (nur die Nachrichtenmedien und der US-Kongress schneiden noch schlechter ab). Kleine Unternehmen hingegen werden (an zweiter Stelle nach dem Militär) als viel vertrauenswürdiger betrachtet. Dieses Vertrauensparadox hat über die Jahre in der Unternehmensführung einige dramatische Veränderungen ausgelöst.
Der erste Wandel fand im neunzehnten Jahrhundert statt, als sich die Produktion im Zuge der Industriellen Revolution von kleinen, eigentümergeführten Unternehmen hin zu modernen Konzernen mit mehreren Niederlassungen verlagerte und zum Aufstieg einer Klasse professioneller Manager führte. Beschleunigt wurde diese Neuordnung der unternehmerischen Landschaft durch die große Fusionsbewegung am Ende des damaligen Jahrhunderts, als Tausende kleiner Firmen durch einige Dutzend Großkonzerne verdrängt wurden.
Die neuen Konzerngiganten brachten die Gesellschaften voran, führten aber auch zu neuen Ungleichgewichten – und zu fast sofortigem sozialem Widerstand: „Wenn wir keinen König als politische Macht akzeptieren“, erklärte US-Senator John Sherman im Jahr 1890, „dürfen wir auch bei der Produktion, beim Transport und beim Verkauf unserer lebensnotwendigen Güter keinen König akzeptieren“. Mit diesen Worten wurde das Kartellgesetz Sherman Antitrust Act geboren.
Laut einer Studie des Ökonomen Shaw Livermore von 1935 war in den 1930ern bereits die Hälfte der Konzerne, die in den USA zwischen 1888 und 1905 entstanden sind, wieder verschwunden oder abgehängt worden. Obwohl der schnelle technische Fortschritt dabei zerstörerischer gewirkt haben mag als die Politik des „Aufbrechens von Konzernen“, lernten die Unternehmen ihre Lektion: Verschwendet ein Konzern seine soziale Lizenz, die er zum Wirtschaften braucht, wird seine Größe zu einer Belastung.
Diese Erkenntnis war die Grundlage für ein neues unternehmerisches Prinzip: die Institutionalisierung unternehmerischer Wohltätigkeit. Obwohl einige Unternehmer bereits seit dem 17. Jahrhundert zu den größten amerikanischen Philanthropen gehörten, wurde das Engagement fürs Gemeinwohl in den USA erst im 20. Jahrhundert zu einem grundlegenden Teil unternehmerischen Handelns. Dies trug dazu bei, einen impliziten Waffenstillstand aufrecht zu erhalten: Die Regierungen waren so eher dazu bereit, die Unternehmen mit nur minimaler Kontrolle wirtschaften zu lassen.
War der Anfang des 20. Jahrhunderts noch durch moderne Unternehmen mit mehreren Niederlassungen geprägt, ging es in der zweiten Hälfte überwiegend um multinationale Konzerne. Dieser Wandel begann mit dem Ersten Weltkrieg und nahm nach dem Ende des Kalten Krieges an Fahrt auf, als sich die Unternehmen durch die Integration der Märkte und die enorme Expansion der Unternehmensbürokratien die globalen Skaleneffekte zunutze machen konnten.
Damit wuchs auch erneut das Vertrauensparadox. Obwohl der Softwaregigant Microsoft das Schicksal des größten amerikanischen Telefonanbieters AT&T, der in den 1980ern zerschlagen wurde, nicht teilte, wurde er doch gezwungen, sich für Software von Drittanbietern zu öffnen – was später dann wiederum zum Wachstum von Unternehmen wie Google beigetragen hat.
Obwohl die Bekämpfung von Kartellen in den 1990ern nicht das Ausmaß des frühen 20. Jahrhunderts erreichte, sahen sich die Unternehmen doch dem Druck ausgesetzt, ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft zu überdenken. 1973, beim Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums (WWF) in Davos, betonte dessen Gründer Klaus Schwab, der „Zweck professionellen Managements“ sei es, allen Interessengruppen zu dienen und ihre unterschiedlichen Interessen zu harmonisieren.
Das so genannte Davos-Manifest leitete noch einen anderen Wandel ein, nämlich denjenigen von der „Konzernphilanthropie” hin zur „Unternehmensbürgerschaft“ – der Idee, ein Unternehmen habe – genau wie normale Bürger – sein Eigeninteresse an den gemeinsamen Interessen innerhalb der Gesellschaft auszurichten. Aber obwohl das Manifest von den Teilnehmern des damaligen WWF-Treffens einstimmig verabschiedet wurde, blieb die Unternehmensbürgerschaft eine radikale Idee – die sich erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, wirklich durchsetzt.
Als Katalysator dabei dient die Vierte Industrielle Revolution, die durch die unternehmerische Expansion hin zu Daten und Algorithmen geprägt ist. In gewissem Sinne könnten sich in dieser neue Phase unternehmerischer Aktivitäten die kleineren Unternehmen an die Spitze setzen. Wie Jack Ma, der Gründer des chinesischen Technologiegiganten Alibaba, dieses Jahr vor den Teilnehmern von Davos sagte: „In den letzten zwanzig Jahren wurde die Globalisierung von weltweit 60.000 Unternehmen geprägt. Stellen wir uns vor, wir könnten diese Zahl auf 60 Millionen Unternehmen steigern.“
Aber dies wäre keine Rückkehr in die Vergangenheit, als kleine und mittlere Einzelunternehmen in der Wirtschaft führend waren. Vielmehr machte Ma damit Werbung für eine Plattform, die er aufgebaut hatte, um kleinen und mittleren Unternehmen den Aufbau ihrer globalisierten Geschäfte zu ermöglichen.
Darin liegt der grundlegende Unterschied zwischen den modernen Märkten und jenen, die sich Adam Smith damals im Jahr 1776 vorstellte: Um heute im Wettbewerb zu bestehen, müssen kleine und mittlere Firmen in der Lage sein, massive Mengen von Daten zu speichern, zu verarbeiten und zu analysieren – Möglichkeiten, die von Giganten wie Alibaba, Amazon, Facebook und Google zur Verfügung gestellt werden.
Auch die so genannte „Gig-Ökonomie“ mag zwar bedeuten, dass mehr Menschen als Einzelunternehmer agieren, aber auch sie sind von multinationalen Plattformen abhängig, um Aufträge, also „Gigs“, zu bekommen. Es ist diese Spannung zwischen noch nie da gewesener Größe – Apple und Amazon entwickelten sich kürzlich zu den ersten Billionen-Dollar-Privatunternehmen – und vorindustrieller Kleinheit, die heute im Mittelpunkt des Vertrauensparadoxes steht.
Daher sind große Konzerne nicht nur Interessengruppen: Oft gehören ihnen die Plattformen, auf denen sich alle Interessengruppen treffen. Um weitere Rückschläge bei der öffentlichen Meinung zu verhindern, müssen sie diese Plattformen so gestalten, dass sie uns nicht nur in unserer Eigenschaft als Konsumenten dienen, sondern auch als Unternehmer, Angestellte und Bürger. In einer Zeit neuartiger globaler Herausforderungen – wie dem Klimawandel und starker Ungleichheit – muss dazu auch gehören, die nie da gewesene Macht der Plattformen zur Suche nach globalen Lösungen zu verwenden.
Anfang dieses Jahres feierte Beyond Meat, der Hersteller künstlichen Fleisches, einen stürmischen Börsengang. Statt die steigende Fleischnachfrage durch die Ausweitung der industriellen Tierhaltung zu bedienen, wie es die Unternehmen der Vergangenheit getan haben, arbeiten Beyond Meat und ähnliche Firmen wie Impossible Foods daran, zum Rückgang des allgemeinen Fleischkonsums beizutragen, der ein Hauptgrund für den Klimawandel ist.
Dies entspricht dem jüngsten Wandel bei der unternehmerischen Verantwortung, wo es nicht mehr nur um kluge Expansion geht, sondern auch um die Frage, was eigentlich vergrößert werden soll. Die Unternehmer wissen, was geschieht, wenn sich die öffentliche Meinung gegen sie richtet. Fordern die Kritiker, dass die Konzerne ihre neuen Versprechen in die Tat umsetzen, haben sie Recht. Aber es gibt auch gute Gründe für die Annahme, dass letztere dies wirklich tun.