Veröffentlicht in: Die Zeit, Nr. 5/2019, 24. Januar 2019
Wir brauchen eine neue Architektur für die heutige Welt – mehr Frank Gehry als antikes Griechenland”, so Hillary Clinton bei ihrer Abschiedsrede als US-Außenministerin.
Politikexperten beschreiben die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene globale Ordnung oftmals als Architektur. Für Clinton ähnelt sie dem griechischen Parthenon mit seinen klaren Formen und Pfeilern. “Da wo einst wenige Säulen reichten, brauchen wir eine dynamische Mischung von Materialien und Strukturen.”
Politik ist Architektur, und Architektur ist Politik, wenn sie Interessen und Machtverhältnisse in Stahl und Beton gießt. “Ich werde eine großartige Mauer bauen, und keiner baut Mauern besser als ich”, so Donald Trump 2015 zu Beginn seines Wahlkampfs.
Gemeinsam lenken sie Mensch und Materie, Energie und Informationen und werden dabei geprägt und irgendwann zerrieben von einer sich beschleunigenden Welt. Kaum ein Ereignis der jüngeren Geschichte verdeutlicht das mehr als der Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren. “Gefahren warten auf die, die nicht auf das Leben reagieren”, warnte Michail Gorbatschow damals die Führungsriege der DDR.
Unsere heutige globale Architektur aus Regeln und Institutionen ist unter dem Eindruck der großen Weltwirtschaftskrise und zweier Weltkriege entstanden und prägt uns seither. Dank ihrer ist die Welt gesünder und reicher als je zuvor. Seit 1944 ist die globale Lebenserwartung von 48 auf 72 Jahre gestiegen. Das Durchschnittseinkommen in China ist heute dreimal so hoch wie damals in den USA.
Das heißt aber auch, dass neue Mächte, Probleme und Technologien auf ihre Stützpfeiler wirken. China wurde von einem armen Agrarland zu einer Großmacht. Der Klimawandel droht ohne radikalen Kurswechsel zur globalen Krise zu werden, während wachsende Ungleichheit den sozialen Frieden gefährdet. Globale Datenströme befeuern das Wachstum mehr als der alte Handel, während globale Cyberattacken zum unkalkulierbaren Risiko werden. Wir brauchen also eine neue Architektur, aber welche?
Insbesondere die Zeit der Hyperglobalisierung nach dem Ende des Kalten Krieges wird häufig mit dem Abbau von Mauern und Grenzen assoziiert, doch bei näherem Hinschauen erlebten wir vielmehr ihre Verschiebung. Staatsgrenzen wurden offener; zugleich entstanden andernorts neue Mauern zum Schutz etwa von Markt und Eigentum. Die Wahl von Donald Trump, das Brexit-Votum und ein globales Wiedererstarken von Extremismus und Nationalismus verkörpern eine wachsende Wut über diesen Grundriss.
So rief vor Kurzem der neue US-Außenminister Mike Pompeo in Brüssel erneut nach einer anderen Ordnung. “Jede Nation … muss sich zuerst ihrer Verantwortung gegenüber ihren Bürgern stellen und sich fragen, ob die globale Ordnung ihren Interessen dient.” Auf viele seiner Zuhörer wirkte Pompeos harsche Kritik am Multilateralismus wie eine Rückkehr zu mittelalterlichen Festungen statt zu den fließenden Formen Gehrys.
Die Rückkehr von Mauern – von Donald Trumps Mexiko-Mauer bis Theresa Mays “roten Linien” bei der Immigration oder Xi Jinpings künstlichen Inseln im Südchinesischen Meer – scheint wie ein seltsamer Anachronismus. Jahrhundertelang umgaben sich Städte mit Mauern, bis Artillerie und Flächenbombardement sie nutzlos machten. Noch viel weniger Schutz bieten sie aber vor Daten, Drohnen oder Klimagasen. Das politische Comeback der Mauer erinnert an die immer brutaleren Befestigungen an der innerdeutschen Grenze, die die Besessenheit von der Niederlage mehr verkörperten als den Glauben an die eigene Kraft. Die Reste der Mauer symbolisieren nicht Macht, sondern die Machtlosigkeit politischer Architektur im Angesicht einer Welt im Wandel.
Trotzdem genügt es nicht, Mauern zu stürmen. Für den, der auf eine andere Welt bloß mit dickeren Wänden reagiert, wird die Festung irgendwann zur Falle. “Ein dunkler Raum hält nicht nur Regen und Sturm ab, sondern auch Licht und Sonne”, mahnte Xi Jinping kurz nach der Wahl von Trump auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum. Wer aber auf eine Welt im Wandel nur mit weniger Ordnung reagiert, riskiert das Chaos.
Anstatt Angst vor dem Ende der alten Weltordnung zu schüren, sollten wir viel mehr fragen, welche Lösungen sich in ihr zu verfangen drohen. Wäre es ein Ozean ohne gigantische Inseln aus Plastikschrott? Wäre es eine Welt ohne Atomwaffen? Wäre es eine Welt ohne extreme Armut? Es fehlt nicht an Lösungsideen, sondern an einer Architektur, die es neuen Lösungen ermöglicht, sich zu entfalten.
Es gibt keinen fertigen Bauplan für so eine Architektur, aber jene Technologien, die die alte Ordnung bedrohen, müssen Bestandteil der neuen sein. Die Umsetzung von Klimaverträgen erfordert neue satellitengestützte Techniken, die Emissionen genau zuordnen können. Und so wie standardisierte Frachtcontainer den Handel im 20. Jahrhundert beschleunigten, wird das 21. Standards für Drohnen und Schiffe brauchen sowie Standards für die Verwendung von Daten, dem “Öl” des Digitalzeitalters.
Clinton hatte recht. Wir brauchen einen dynamischen Mix von Materialien und Strukturen, um eine funktionierende Ordnung für ein neues Zeitalter zu schaffen: digitale Plattformen, neue Partnerschaften mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft und andere Instrumente fernab traditioneller Diplomatie. Aber Clinton und mit ihr eine Generation von “Globalists” lag falsch in dem Glauben, dies allein reiche aus, um die Spannung zwischen befreiten Märkten und beschnittenen Demokratien zu beheben.
Diese Spannung, die sich heute zur Antriebsfeder eines neuen Nationalismus entwickelt hat, ist nicht durch “precision politics” zu lösen. Demokratien ziehen ihre Kraft nicht aus klügeren Entscheidungen, sondern daraus, dass alle mitmachen und somit eher bereit sind, auch die Entscheidungen zu tragen, die ihren unmittelbaren Interessen widersprechen. Eine globale Ordnung in einer vernetzten Welt muss mehr Demokratie wagen.
Große Architektur ist nie simpel und offensichtlich. Von Gaudís Sagrada Família bis Gehrys organischen Formen scheint sie Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Nichts anderes gilt für eine globale Ordnung, die unter anderem Europa von einem Kriegs- zu einem Handelsplatz gemacht hat. Nicht die Fehler unserer alten Ordnung sollten uns anspornen, eine bessere zu erschaffen, sondern ihr ungeheurer Erfolg.