Zukunft gestalten in einer zersplitterten Welt Discussion paper, March 2017

Verblüfft. Ungläublig. Besorgt. So reagierten Teilnehmende des letztjährigen Weltwirtschaftsforums auf einen neuen Supercomputer, der in Sekundenbruchteilen Milliarden Sensordaten auswerten, und hochkomplexe Organisationen steuern können sollte.

Leider oder glücklicherweise, laut etwa 80% der Davosteilnehmer, existiert dieser  Computer noch nicht. Er war Teil einer Ausstellung, in der Wissenschaftler und Künstler gemeinsam erforschten, wie intelligente Maschinen unser Leben verändern werden: Was wäre, wenn Maschinen die menschliche Intelligenz in allen Gebieten erreichten oder gar überstiegen, und uns so nach und nach das Denken und Entscheiden abnähmen?

Derartige Zukunftsvisionen erregen unsere Fantasie seit Generationen. Trotzdem haben wir selten so obsessiv unsere Ängste in Zukunftstechnologien projiziert. Das hat zwei Gründe: Erstens erleben wir gegenwärtig bedeutende technologische Sprünge, wie die rasante Entwicklung von spezieller hin zu allgemeiner künstlicher Intelligenz; zweitens erleben wir massive gesellschaftliche Spannungen durch Stagnation,  Erosion, und  Zersplitterung alter Ordnung.

Beide Faktoren bestimmen nicht die Zukunft, aber sie bereiten den Boden für einen grundlegenden strukturellen und möglicherweise abrupten Wandel, die so genannte „Vierte Industrielle Revolution“. „There is a crack in everything. That’s how the light gets in“ – dichtete einmal der Kanadische Sänger und Songwriter Leonard Cohen. Zersplitterung ist Erneuerung. Wie die Vierte Industrielle Revolution den vielen und nicht nur den wenigen nützen kann, sie nicht einfach zu einer „Palastrevolution“ wird, dieser Frage widmet sich das diesjährige Davosforum.

Erneuerung.

Die vielleicht poetischste Idee einer künstlichen Superintelligenz ist über 60 Jahre alt. Sie entspringt dem Essay Franchise aus der Feder des Science Fiction Autors Isaac Asimov. Franchise spielt im Jahr 2008. Wahlen wurden abgeschafft. Ein Computer namens Multivac wählt den US Präsidenten – mittels „Big Data“ und „Machine Learning“.

Das einzige Manko von Multivac ist, dass er nicht wie ein Mensch empfindet. Deshalb wird nach dem Zufallsprinzip ein Bürger bestimmt, dessen Gefühl zusammen mit Multivac‘s Daten den Präsidenten ermittelt. Im Jahr 2008 fiel die Wahl auf den wenig erfreuten Gemischtwarenhändler Norman Muller aus dem kleinen Städchen Bloomington, Indiana.

Asimov’s düstere Kurzgeschichte war inspiriert von einer technischen Sensation, dem Univac. Univac war der erste Hochrechnungsrechner der Demokratiegeschichte. Er kam im Jahr 1952 am Abend der US Präsidentschaftswahl zum Einsatz. Univac ermittelte das Wahlergebnis schneller als je zuvor und war doch ein Reinfall: die Entwickler trauten der Vorhersage eines klaren Eisenhower-Sieges nicht, da Umfragen einen knappen Ausgang vorher gesagt hatten. Erst als das Ergebnis schon offiziell bestätigt war, rückten sie mit dem ihrigen heraus. Univac war schnell vergessen.

Heute ersetzen Maschinen zwar immer noch keine Wähler, aber beeinflussen in hohem Maße Wahlen. Die Firma Cambridge Analytica, zum Beispiel, kommerzialisiert erfolgreich ein Verfahren, das mit wenigen Clicks in sozialen Netzwerken detailierte Psychogramme von Nutzern erstellt. Sie soll mehr als 220 Millionen solcher Profile an die Trump-Kampagne übermittelt haben, die so zielstrebiger als je zuvor Wähler ansprechen konnte.

Doch Wahlen sind nur der Anfang. Intelligente Computer verändern immer radikaler das öffentliche Leben. Da ist zum Beispiel die App Crime Radar, die verspricht, in Rio de Janeiro Verbrechen auf den Tag und die Straße genau vorherzusagen. Machinelles Lernen erlaubt der Software aus 14 Millionen Kriminalfällen Muster zu lesen, die traditionellen statistischen Verfahren entgangen wären. Ähnliche Algorithmen kommen unter dem Begriff des „predictive policing“ schon jetzt bei Polizeibehörden in vielen Großstädten der Vereinigten Staaten zum Einsatz.

Robotik und Sensorik erlauben es Computern aber auch immer direkter in unser Leben einzugreifen. Das Start-up Otto, das gerade von Uber Freight gekauft wurde, lässt schon jetzt autonome LKWs auf amerikanischen Straßen testen. Selbstfahrende Autos und autonome Dronen sind nur noch eine Frage der Zeit, und damit auch Überlegungen Fahrzeuge kollektiv zu steuern. Das US Transportministerium plant auf diese Weise Krisengebiete schneller zu evakuieren.

Und auch an der Schnittstelle zwischen digitaler und biologischer Welt spielt sich radikaler Wandel ab. Neue Sensortechnologien könnten auf die digitale die „Neurokommunikation“ folgen und so die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmen lassen. Medizinisch werden Geräte, die die Hirnaktivität messen,  schon jetzt genutzt, um mit Menschen zu kommunizieren, die unfähig sind, sich sprachlich verständlich zu machen. Ähnliche Geräte werden schon jetzt kommerziell von Emotiv und anderen Start-ups als „Brainwear“ verkauft.

Die totale digitale Perfusion unserer physischen und biologischen Welt führt dazu, dass jede unserer Handlungen Bits und Bytes hinterlässt, die mit Millionen anderer Daten Algorithmen formen, die uns besser verstehen als wir selbst. Denken wir an den Univac von 1952, so hat es eine Weile gedauert bis wir bereit waren künstlicher Intelligenz zu trauen. Trauen wir ihr bald mehr als uns selbst?

Jahrtausendelang wurde irdische Macht mit religiösen Mythen legitimiert, dann mit humanistischen Idealen, und bald vielleicht mit Daten und Algorithmen. Der israelische Historiker Yuval Harari leitet daraus einen kommenden Epochenwandel ab, das Zeitalter des Dataismus.

Zersplitterung.

Der Dataismus klingt für viele nach einem Orwellschen Albtraum, aber ist die Art und Weise wie wir heute Entscheidungen fällen nicht genauso bedenklich? Beinahe 80% der Wahlkampfäußerungen von Donald Trump waren unwahr– und trotzdem ist er Präsident.

Analysten deuten auf die sinkende Bedeutung von Fakten im politischen Diskurs. Die Vorboten eines düsteren Dataismus in Form digitaler Echokammern und bewusst gestreuter Missinformation paaren sich mit einem enthemmten Humanismus nach dem gut ist, was ich als gut empfinde,und schlecht ist, was ich als schlecht empfinde.

Das alles würde aber nicht solch einen Flächenbrand entfachen, wären da nicht extreme Verteilungs- und Konzentrationskräfte, die vornehmlich mit der dritten, der „digitalen“, Industriellen Revolution zusammen hängen. Für eine Revolution braucht es mehr als nur technologischen Wandel, es braucht viele Menschen, die den Status Quo nicht mehr dulden.

An fast allen Wirtschaftsfakultäten zählt das Faktorpreisausgleichstheorem, das auf Paul Samuelson zurück geht, zur Grundausbildung. Es besagt, dass offene Märkte eine Angleichung der Faktorpreise auslösen, also eine Angleichung von Löhnen und Erträgen. Das mit einem Nobelpreis ausgezeichnete Theorem prophezeit die enorme Verteilungswirkung globaler wirtschaftlicher Integration. In griffige Slogans wie „Die Welt ist flach“ gehüllt, wurde Samuelson’s Theorem der intellektuelle Unterbau der Globalisierungsbewegung nach Ende der Sowjetunion.

Nicht zu Unrecht: noch 1988 verdiente ein US Amerikaner mit unterdurchschnittlichem Einkommen sechseinhalb mal so viel wie ein gut verdienender Chinese.  Heute sind beide Einkommen etwa gleich. Insgesamt sterben heute mehr Menschen an Über- als an Unterernährung, an Altersschwäche als durch Pandemien und durch Suizid als durch Mord oder Totschlag. Drei Jahrzehnte der Globalisierung haben die Welt reicher, gesünder und auch sicherer gemacht.

Erst die globale Wirtschaftskrise der späten 2000er rückte die Kehrseite wirtschaftlicher Integration ins öffentliche Bewusstsein: Konzentration. Samuelson – und nach ihm Generationen von Ökonomen – ignorierte einen Effekt, den der Soziologe Robert Merton schon 1968 als Matthäus-Effekt bezeichnete, in Anlehnung an den Bibelvers: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ (Mt 25,29)

Was heißt das genau? Die Welt ist vernetzter als je zuvor, aber der Großteil dieser Vernetzung erstreckt sich über 50 Megastädte und Regionen. Die Industrielandschaft ist diverser als je zuvor dank Ländern wie China, die es binnen kurzer Zeit zu Hightech-Exporteuren geschafft haben, aber sie leidet gleichzeitig unter industriellen Monokulturen, wie dem aufgeblasenen Finanzsektor der USA oder industriellen Überkapazitäten in China. Unternehmen sind wertvoller als je zuvor, aber 150 der über 40.000 multinationalen Firmen verfügen über die Hälfte aller Kapitalgüter. Konzentration ist Begleiterscheinung, teilweise auch Bedingung von Verteilung.

Aus diesem Spannungsverhältnis speist sich der besorgniserregende Trend wachsender Einkommens- und Vermögensungleichheit. Dieses Phänomen ist in den USA besonders eklatant. San Francisco hat ein Zehntel von Bangkoks Bevölkerung aber sechs mal so viele Obdachlose. In Europa sind über 100 Millionen Beschäftigte von Armut bedroht. Zugleich ist global die Zahl der Superreichen gewachsen: mehr als die Hälfte des Wachstums seit Ende der 80er ist in die Taschen der reichsten fünf Prozent der Weltbevölkerung geflossen.

Technologischer Wandel könnte diese Situation weiter verschärfen. In den USA sind bis zu 47% aller Jobs von Automatisierung betroffen. In Deutschland soll die Zahl sogar bei 59% liegen. Neue Jobs entstehen, häufig aber im Kurzzeit- und Niedriglohnsektor.

Die enormen Verteilungs- und Konzentrationsprozesse, die erst mit der Finanz- und später dann mit der Flüchtlingskrise voll zu Tage getreten sind, sowie die Erwartung fortwährender Automatisierung schürt Angst. Es ist diese Angst, aus der sich der Populismus von Donald Trump, des Brexit Lagers, und der Parteien an den Außenrändern des politischen Spektrums speisen. Sie alle versprechen uns schnelle Lösungen für komplexe Wirklichkeiten.

Damit ist der Populismus das Spiegelbild des Dataismus. Der Dataist verhält sich wie Max Frisch’s Homo Faber. Er ignoriert, dass technische Lösungen auch neue Probleme schaffen: Wer das Flugzeug erfindet, der erfindet den Flugzeugabsturz; wer das Schiff erfindet, der erfindet den Schiffsuntergang. Der Populist sieht den Absturz und den Untergang, aber ignoriert die Lösungen. Er fordert vehement: zerstört alle Flugzeuge und Schiffe „to make travel great again“.

Zukunft.

Aber was ist die Alternative? Konzentrations- und Verteilungskräfte sind die ewigen Pole des Wandels – seine einzigen Konstanten. Es geht nicht darum uns fatalistisch diesen Kräften hinzugeben, sondern sie zu lenken, sie zu gestalten, sie zu kanalisieren. Wie ein Flugzeugkonstrukteur, der sein Wissen von Auftrieb und Schwerkraft nutzt, müssen wir unser Wissen um Verteilung und Konzentration nutzen, um Gesellschaft gerechter zu gestalten. Dieses Gestalten erfordert Energie, oder um beim Beispiel des Fliegers zu bleiben, ohne eine entschiedene Bewegung nach vorn kann das Flugzeug seine Höhe nicht halten und erst recht nicht an Höhe gewinnen.

Technologie ist dabei entscheidend, aber entscheidet nicht. Jedes Technologiezeitalter erfordert seine politische Entsprechung. Die Soziale Marktwirtschaft war die Antwort auf die Industrialisierung. Die Umweltbewegung war die Antwort auf das nukleare Zeitalter. Das Multistakeholder Konzept war eine Antwort auf die fallende Autonomie von Nationalstaaten. Neue Technologien und soziale Spannungen rufen erneut nach politischen Antworten jenseits eines dys- oder utopischen Technofetischismus oder eines nihilistischen rückwärts gewandten Populismus.

Die Suche nach Antworten erfordert nicht nur Mut zum Wandel, sondern auch Orientierungsmarken, die es uns ermöglichen, Neuland zu erkennen, Klippen zu umschiffen, und bei Sturm und schlechter Sicht die Richtung nicht zu verlieren.

Ein Aufbruch in eine gemeinsame Zukunft erfordert Vorstellungskraft. Wie Fredric Jameson einmal sagte: „Es fällt uns leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“. Wir müssen uns erlauben zu fragen: Was wäre wenn? Was wäre, wenn bestehende Formen kapitalistischer Ordnung nicht mehr „fit“ sind für ein vernetztes Informationszeitalter?

Ein Aufbruch in eine gemeinsame Zukunft erfordert Unvoreingenommenheit. Jede noch so gute Idee enthält Brüche und innere Widersprüche, die Spuren ihres eigenen Scheiterns. Offenheit und Vielfalt sind der beste und vielleicht einzige Weg unseren Echokammern zu entrinnen. Filter und Algorithmen machen uns das Leben leichter, aber nehmen uns auch Transparenz und Freiheit.

Ein Aufbruch in eine gemeinsame Zukunft erfordert aber vor allem Empathie. Die vielleicht beste Idee des Kapitalismus liegt in seinem Glauben an die schöpferische Kraft des Wettbewerbs. Ihre Kehrseite, ihr innerer Bruch, ist der Irrglaube, dass der Sieger den Sieg und der Verlierer seine Niederlage somit zwangsläufig „verdient“. Diese meritokratische Hybris hat uns für das Problem der Ungleichheit lange blind gemacht.

Insbesondere der rechte Populismus versucht uns heute zu erklären, all diese Werte seien knappe und jetzt aufgebrauchte Ressourcen. Ein verherender Marktvergleich. Werte sind keine Güter. Werte sind eher wie Muskeln, die stärker werden je mehr man sie nutzt.

An einer Stelle in Asimov’s Geschichte fragt ein Mädchen ihren Vater wie es denn war bevor Multivac uns das Entscheiden abnahm. Wie wussten die Menschen wofür sie stimmen sollten? Seine Antwort: „They just used their own judgment“. Sie nutzten ihr „Urteilsvermögen“.

Die Zukunft kommt, ob wir es wollen oder nicht. Ob es uns gelingt, aus einer zersplitterten Welt eine gemeinsame Zukunft zu formen, hängt von unser aller Urteilsvermögen ab. In die Zukunft aufbrechen  heißt Gegenwart gestalten, mit Vorstellungskraft, Unvoreingenommenheit und Empathie.

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